Alles begann mit ein paar andauernden Rückenschmerzen. Der Arzt sagte mir damals, er könnte eine Spritze geben oder Sport machen wäre auch eine gute Alternative. In diesem Fall führte der Rat des Arztes zu 100 Marathons in 17 Jahren. Zuvor war Laufen nur eine Randsportart für mich. Überhaupt war Sport eher passiv. Fußballgucken bei den Großen und bei den Kindern war die häufigste Sportart. Doch der Rat des Arztes führte zu steigender Aktivität.

Zunächst war kaum vorstellbar, nur ein oder zwei Kilometer zu rennen. Das kam mir wie eine irre Strecke vor. Doch nach wenigen Monaten war der Anfang geschafft. Sowas geht natürlich am besten zusammen mit anderen. Und in der Gemeinschaft kommt auch irgendwann die Idee, Herausforderungen anzugehen. Die Laufszene war damals im vollen Leben und es gab allerorten Wettbewerbe über 5 km oder 10 km. Natürlich war hier erstmal das Ziel, solche Strecken gut zu schaffen und mit den anderen irgendwie mithalten zu können. Die Anstrengung unterwegs und der Stolz im Ziel ist etwas Besonderes und Motivierendes.

Im Sport geht es immer um das nächste Ziel. Das war zu diesen Zeiten natürlich die Zeit und die Länge der Strecke. Wenn man nicht mehr der Jüngste ist, sind bessere Zeiten nur mit viel Training und Schweiß zu erreichen. Und wenn der Job schon anstrengend ist, warum soll man in der Freizeit auch ständig an Leistung denken? Daher war das Weiter immer interessanter. So kommt bald der erste Halbmarathon. Klar sind Zeiten nicht unwichtig. In der Breitensport-Laufszene sind 2 Stunden für die 21 km immer ein guter Vorsatz. Ist diese scheinbar unmenschliche Entfernung geschafft, dann lockt auf einmal die Königsdisziplin im Laufen, der Marathon mit seinen unfassbaren 42 km.

Freunde wollten dies damals auch und so bereitete man sich gemeinsam vor, fachsimpelte über alle wichtigen Fragen der Ausrüstung und Ernährung. Träumte von Fabelzeiten für den ersten Marathon. München war 2004 als Startort ausgewählt. Und dann kommt alles ganz anders. Man rennt flott los und wird dann immer langsamer. Schließlich schleppt man sich mit letzter Kraft ins Ziel. Der Stolz drängt dann aber die Anstrengung schnell in den Hintergrund.

Es gibt hier zwei Situationen. Manche sagen nach diesem Erlebnis nie wieder und sie halten sich auch tatsächlich daran. Oder das Nie-Wieder ist in zwei Wochen vergessen. So war es bei mir. Schon bald tauchte die Frage auf, wo soll der nächste Marathon sein. Laufen über solche Strecken ist nicht nur Sport, sondern auch immer ein Erlebnis. Verschiedene Orte, verschiedene Menschen, das Wetter ist mal gut und mal schlecht. So stieg die Begeisterung für diesen neuen Lebensinhalt.

So gab es am 50. Geburtstag keine große Feier, sondern es wurde ein passender Marathon im August gesucht. Aber mitten im Sommer gibt es nicht viele Orte mit solch einem anspruchsvollen Wettbewerb. Es tat sich eine Stadt mit Namen Reykjavik auf, bekanntlich die Hauptstadt von Island. Mit der Reise dorthin tat sich eine neue Liebe zu diesem rauen und einzigartigen Land auf. In 2010 sollte sogar ein Lauf durch die Wildnis dieser tollen Insel folgen, der zum schönsten Lauf bisher avancierte.

Viele andere Länder und tolle Orte wurden ebenfalls durch die Laufleidenschaft heimgesucht. Quebec in Kanada bleibt unvergessen. Hier gab es sogar eine blinkende Medaille. Leider war bald schon der Akku leer. Auch Stockholm ist immer eine Laufreise wert. Besonders schön war Venedig. Die Strecke ging hier von den Vororten von Padua entlang den Kanälen bis in die Straße der Leiden am Markusplatz. Überhaupt gehen Marathons in Italien immer mit Riesen-Emotionen einher. Viele Italiener begeistern sich toll, so dass man denkt, es ginge um Leben und Tod.

Und wenn man immer mehr Marathons läuft, merkt man auch irgendwann, dass es da Leute gibt, die noch weiter laufen. Ultramarathon heißt dies in der Laufszene. Gleichzeitig wurde in dieser Zeit das Laufen im Gelände sehr beliebt, weil es viel anspruchsvoller für den ganzen Körper ist. Bergauf und bergab, über Stock und Stein im Laufschritt oder auch mal aufwärts gehend. Wer dies noch nie versucht hat, weiß gar nicht, wie spannend Naturstrecken sein können. Neudeutsch heißt dieser Sport Trailrunning. Man kann ihn auch als schnelles Wandern oder langsames Mountain-Biken ohne Fahrrad sehen. Viele junge Leute sind heute auf solche Art unterwegs.

Im Allgäu gibt es dafür eine wunderbare Panoramastrecke über 70 km von Sonthofen nach Oberstdorf über die Berge im Westen hin und im Osten zurück. Insgesamt vier Mal bewältigte ich in den Folgejahren diese Mammutstrecke mit all ihren endlosen Anstiegen besonders zum Ende des Laufes, wenn man sich eigentlich nur noch hinsetzen möchte. Weitere Alpenstrecken folgten in den nächsten Jahren. Nicht immer gab es oben die Aussicht zu genießen, manchmal endete das Abenteuer ganz oben im Nebel. Aber auch rund um Seen, wie dem Wörthersee bei Klagenfurt oder quer über eine Insel, wie Faial von den Azoren, gab es endlose Abenteuer zu bestehen.

Dann wollte ich es wissen und wenigstens einmal die unglaubliche Strecke von 100 km bewältigen. Zur Vorbereitung lief ich im Vormonat drei Marathons. In einer endlosen Zeit ging es von Wuppertal nach Essen und zurück. Einstein hatte nicht ganz recht, die Zeit ist ein Gummiband, was immer länger wird. Das brauchte ich dann so schnell nicht wieder.

Highlights der letzten Jahre waren die Sahara in Algerien. Eine spanische Organisation organisierte dazu extra ein Charterflugzeug. Im Februar ist es recht erträglich dort. Die begeisterten Kinder waren es alleine wert. Tatsächlich schwieriger war der Lauf am Ätnakrater während auf der anderen Seite der Vulkan rumorte. Das Vorwärtskommen in Vulkanasche ist ein besonderes Erlebnis, was an Sisyphos erinnert. Ganz anders, aber auch sehr spannend war der Lauf durch das Wattenmeer von der Insel Neuwerk mitten in der Nacht mit Badeeinlagen in tiefer liegenden Abflussanälen.

Doch alles hört sich viel gewagter an, als es tatsächlich war. Durch meine vielen Läufe habe ich gelernt Dinge zu probieren und Grenzen zu erkennen. In all den Jahren war ich nie wirklich verletzt. Die Achtsamkeit und auf den eigenen Körper zu hören, ist dabei ganz wichtig. Dann kommt der Spaß von selbst.

Ende Oktober 2021 war der 100. Marathon ganz nah im Vogelsberg wieder über Stock und Stein dran. Die Freude war riesig. Im Ziel empfingen mich die Freunde vom Umstädter Lauftreff. Dafür waren die 100 Marathons auch ein wichtiger Weg. Neue Menschen kennenzulernen und mit ihnen die Leidenschaft für den Spaß am Sport und das Leben zu teilen. Die Gemeinschaft des Umstädter Lauftreff ist hier etwas ganz Besonderes.

Rudolf Nickels